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Ein ganz wundervoller Text, der mich sehr berührt hat. Beim ersten Mal Lesen, beim zweiten Mal, beim dritten Mal. Ein Text, den man nicht auf analytischer Ebene verstehen und abhaken kann, sondern eine innere Bereitschaft nötig ist, sich in die Worte fallen zu lassen wie in einen Traum, der die Grenze verschwimmen lässt zwischen der repräsentablen Realität und dem Konstrukt, das unser Weltbild darstellt.
Denn leben wir nicht alle in unserem eigenen kleinen Kosmos? Und sehnen uns danach, einfach „Ich sein“ zu dürfen? So wie wir sind, in unserem persönlichen kleinen Universum.
Traumländer und Parallelwelten – ein Beitrag zu den Bloggerthementagen 2013
„Komm her. Tritt ein.Spürst du es? Das ist Traumland!“
In diesem Moment, in dem du diesen Text bis hierhin liest wurden auf der Welt schon 4 Kinder geboren.Und in dieser Minute, in der du diesen Abschnitt Revue passieren lässt werden weltweit 10 Hektar Wald gepflanzt, was rund 5 Fußballfeldern entspricht, während wiederrum 18 Fußballfelder abgeholzt werden. In dieser Minute hat dein Herz schon rund 5 Liter Blut gepumpt, was ungefähr dem gesamten Blutvolumen im menschlichen Körper entspricht. Du hast schon 20 Mal mit deinen Augen geblinzelt und einmal geschluckt ohne es selbst gemerkt zu haben.
In diesem Moment, in dem du die Bilder von Fußballfeldern vor deinem inneren Auge siehst und überlegst, ob du in den letzten 60 Sekunden schon geschluckt oder geblinzelt hast geschehen aber auch viele Dinge, die die Wissenschaft noch nicht erfasst hat – und womöglich auch niemals erfassen wird. In diesem Augenblick lächelt ein Mensch einen Wildfremden grundlos auf der Straße an. Ein Eisbär schaut in den Himmel und denkt nicht an den Morgen. Und ein Mensch in Peru oder Sibirien bekommt ein Geschenk überreicht.
Darüber hinaus passieren hier aber auch Dinge, die ein Mensch womöglich selbst kaum erfassen kann: wir träumen. Nachts im Osten, tagsüber im Westen und dann wenn wir wach sind in dem Moment, indem das Bewusstsein nicht auf den Körper achtet streifen zahllose Gedanken unsere Gehirnwände, verankern sich in unserer Erinnerung und lösen ein Gefühl in uns aus.
Ein Traum ist eine Kreatur, die im Herzen wächst, die sich sträubt mit der Realität Freund zu werden und dennoch selbst zu dieser wird, wenn man ihr den nötigen Freiraum gewährt und lernt mit ihr zu leben.
Aber die Realität verlangt von mir, so sieht es aus, dass ich mit ihr lebe und Traumland nur ein vages Konstrukt meiner Sehnsucht ist. In den Augenblicken, in denen unsere Gedanken unsichtbar sind, frage ich mich oft: wo ist Traumland zwischen all diesen Synapsenverkettungen, gemischten Gefühlen, Alltagsnotizen und vorgefertigten Trampelpfaden?
„Parallel Universe“ – das sagen nicht nur die Red Hot Chili Peppers, sondern auch ich!
Ich bin jung – und auf den ersten Blick ziemlich normal. Ich wurde nie gemobbt und war auch nie Klassensprecher, kein Sitzenbleiber und auch kein Streber, sondern einfach immer dabei. Heute sammele ich wie alle, die einen Bachelor anstreben Credit Points, klicke auf Facebook, träume – oft konzeptlos – und bin manchmal echt knuffig, sagen Freunde.
Aber dann – das sage ich: lebe ich in einer Parallelwelt. Einfach „Ich“ sein – das geht oft nicht.
Wir sind in eine Welt entlassen worden, die global, kosmopolitisch und durch einen Mausklick grenzenlos geworden ist, aber darauf vorbereitet hat uns niemand. Man hat uns vor geöffnete Grenzen, zahlreiche Studiengänge und Möglichkeiten gestellt und gesagt: „Da, mach mal! Aber mach bloß keine Fehler dabei! Und vor allem – pass dich an und pass rein!“
Ein Freund von mir hat einmal gesagt: „Es gibt für uns 1000 Möglichkeiten und eigentlich doch keine.“ Er hat Recht. Auch ich bin jung, und es gibt zig Ideen, denen ich nach meinem Bachelorabschluss im Oktober folgen könnte.
Oft habe ich Angst, wenn ich an die Zukunft denke. In meinem Umfeld gibt es viele Menschen, die gescheitert sind – obwohl das nicht nötig gewesen wäre! Eine Freundin, sie möchte im sozialen Bereich arbeiten, ein arbeitswütiger und idealistischer Mensch – aber eben ohne Komplettbiographie. Ein guter Freund, schrieb 400 Bewerbungen – spricht aber eben nicht akzentfrei Deutsch. Ein anderer, talentiert und motiviert – aber eben Autist. Die nächste soll für einen Job zunächst ein unbezahltes Praktikum machen – das geht aber nicht, denn sie wird finanziell von Haus aus nicht unterstützt.
Ich frage mich, was macht also ein Mensch, der eben nicht Assessmentcenter-tauglich ist? Was macht einer, der beim Bewerbungsgespräch keine Ahnung hat, was er sagen soll – aber fachlich völlig gut ist? Jemand, der nicht aus den besten Verhältnissen kommt? Jemand, der die Liste an jobtauglichen Adjektiven „flexibel, stressresistent, teamfähig“ nicht abhaken kann? Bei vielen entsteht Frust, Verunsicherung, ein Gefühl von Ohnmacht. Ich lese häufig Stellenanzeigen. Dort sucht man Menschen mit Uniabschluss, möglichst gerade geboren aber bitte mit 5 Jahren Berufserfahrung. Wie soll das gehen? Uns wird nicht erlaubt ein Risiko zu gehen, anders zu sein, einen Fehler oder eine Erfahrung zu machen, die nicht die Karriere, aber vielleicht uns selbst fördert.
Es ist so wie mit dem Kuchen. Früher gab es vielleicht einen Blaubeerkuchen. Der stand da, und man wusste, wenn ich mich anstrenge, dann darf ich ihn essen. Und so war das auch. Heute stehen neben dem Blaubeerkuchen noch zwei Zitronensorbets, eine Donauwelle und eine Sahnetorte, aber am Ende erhält man – nachdem man überall schnuppern durfte – vielleicht nur die Reste oder ein winziges Stück von einem. Das frustriert! Und nimmt uns den Mut.
Oft wünsche ich mir, dass es mehr Platz zum Scheitern gäbe. Dass es mehr Platz für Verrückte, Verquere und Andere gäbe. Dass man die Zeit anhalten könne, um hinter ein paar Abzweigungen zu spähen, sich zu verlaufen, dann doch irgendwo seinen Weg zu finden – und am Ende sich selbst.
An manchen Punkten fehlt uns einfach die Anleitung – nicht was wir denken sollen, aber wie wir lernen können zu Reflektieren, zu Tolerieren und einfach mal zu Atmen.
Ich habe nie gelernt, wie ich mit Distanz umgehen soll. Diese nonverbale Höflichkeit, die Kälte, die emotionale Härte, diese Selbstverständlichkeit mit der selbst viele Altersgenossen der Welt begegnen, so als wüssten sie längst alles. Ich bin ehrlich: ich weiß nichts vom Leben! Ich bin ein Träumer, ahnungslos, hoffnungsvoll und absolut ungewillt den ganzen Kram zu lernen. Aber die Welt, in der ich heute lebe, verlangt genau das Gegenteil: Scheitern verboten! Und – pass in deine Schublade. Aber das kann ich nicht. Ich bin anders. Einfach so.
Mir ist bewusst, dass das was die meisten Menschen als Realität bezeichnen absolut surreal ist. Es ist nichts mehr als ein erfundenes System aus Wörtern, unsichtbaren Regeln und den passenden Hosenanzügen. Sonst nichts. Real ist zu schwitzen, zu schreien, zu lachen – ohne Regeln! Realität ist, was niemand kontrollieren kann. Also ist auch Träumen Realität.
Und wo geht’s nun lang Richtung Traumland?
Ein Traumland ist an keinen Ort gebunden, vielmehr an ein Gefühl, einen Augenblick an die Konstellation von Menschen, Umgebungen und Gerüchen, die ein warmes Stück Sicherheit und Freude in einem hinterlässt, welches kaum mit Worten zu erklären ist. Jeder findet dort seinen Platz, ganz gleich wo er sich befindet.
Traumland ist ein Zustand, in dem es keine Grenzen gibt. Und da man Traumland bekanntlich nicht betreten kann, ist es ein Ort, dessen Häuser Metaphern meines Selbst sind und dessen Worte und Aktionen Sinnbilder der Wünsche sind, die in meinem inneren ihren Platz finden.
Mein Traumland kann von stadtbildprägenden Skylines, die einen klaustrophobischen Stempel in der Seele des Fußgängers hinterlassen geprägt sein.
Mein Traumland kann ein Urwald sein, eine Wüste, in der die Nächte noch so dunkel sind, dass man dort die Sterne sieht.
Mein Traumland kann bunt sein, manchmal cremig gebleicht, voller widerspenstiger Gerüche von Chai-Tee und Tobleroneschokolade, bis hin zu dem Duft von Meeresluft.
Manchmal ist zu Hause mein Traumland, die Sicherheit, die es mir bietet. Dann ist auch wieder die Fremde, nach der ich mich sehne.
Traumland ist ein Gefühl. Für mich, ein Tanz, ein Lächeln, wohlwissend, dass man verstanden wird, verbunden mit einer Bewegung.
Schubladenflucht und Denkplatzsuche!
In meinem Traumland gibt es keine Menschen, die falsch sind oder nicht funktionieren. Es gibt dort nur Menschen. Deshalb soll in diesem Text von niemandem die Rede sein, der behindert, rausgerückt oder daneben ist, aber von Menschen umso mehr! Und irgendwo auch von mir. Fehlerfrei. Einfach sein.
Ich selbst habe viele Gründe falsch zu sein und meine Biographie trägt viele Namen, die versuchen sie zu erklären. „Hyperaktiv, Migrantionshintergrund, Scheidungskind, Chaot, Sensibelchen und Freak“ – es sind nur einige Titel, die mir oft ohne Orden verliehen worden sind. Ich selbst brauche sie nicht – denn ich lebe auch so dasselbe Leben. Mein Lebenslauf ist ein Sammelsurium, welches dem Stichwort„Improvisation“ folgt, nicht dem der leistungsorientierten Tendenzen, die Zeitschriften wie „Zeit Campus“ oder „Neon“ meiner Generation diktieren. Ich sage: ich habe definitiv zwei Dinge: meinen Körper und das Wissen in meinem Kopf. Und damit sich beide möglichst wohl fühlen, richte ich mein ganzes Leben danach.
In einer Zeitung schrieben sie, dass gerade in Deutschland die Herkunft das Wichtigste ist. Nicht, weil man mit Migrationshintergrund nicht an die Universität gehen kann – ich selbst beweise das Gegenteil. Es ist vielmehr der „Stallgeruch“,textete der Journalist, also das subtile Wahrnehmen von gesellschaftlichen Richtwerten, die das ganze System in seiner Komplexität zusammenhalten. Das kann ich echt nicht. Wir haben zu Hause immer „Tacheles“ geredet – auch wenn es uncharmant und floskelfrei ist. Ich kenne das Brüllen und die Straße. Als meine Eltern nach Deutschland gekommen ist, da gab es keine Zeit für Small Talk und perfekte Verhaltensweisen. Ich habe gelernt zu produzieren, nicht mich anzupassen. Na dann, ciao Perspektive? Muss ich mir nun Sorgen machen? Werde ich nie langfristig einen Job finden? Ich bin nicht teamfähig, strssresistent oder flexibel, so wie jeder Personalchef das gerne hätte. Ich habe keine Ahnung was gerade „en vogue“ ist und wie man zwischen den Zeilen liest. Ich weine oft, brauche viel Zuneigung und reagiere oft langsam. Ich bin unsicher. Aber kreativ, idealistisch und eine unverbesserliche Kämpferin. Will mich jemand haben?
Oft frage ich mich: ist diese Welt gemacht für Menschen, die vom Blick in einen Sternenhimmel, der Weite und immensen Kraft, die er ausstrahlt so gerührt sind, dass sie weinen müssen?
Bietet diese Welt einen Platz für Querdenker, die das soziale Hierarchiesystem nicht verstehen – und deshalb ihren eigenen manchmal verrückten Regeln folgen?
Ist diese Welt gemacht für jene, die viel mehr Wärme und Geduld brauchen, als andere, da sie in keinem Panzer geboren wurden, sondern einfach sein wollen?
Oft glaube ich: Nein! Aber manchmal dann doch! Denn wer nackt ist, kann angegriffen werden. Aber wer nackt ist, der spürt auch mehr. Und ich will lernen, erfahren, fühlen. Haben wir dafür noch Zeit und Raum?
Ich beschließe zu fliegen
Ich bin kein Stein, kein Stempel und keine Schablone auch wenn die Parallelwelt das so verlangt. Ich bin ein Fluss, wie das Meer, fließend, weich, manchmal zu weich, zu schwach um wie ein Feld zu bestehen und doch verleiht mir die Tatsache, dass ich mich wie eine Welle fühle, die wundervolle Eigenschaft das Leben aus jeder Perspektive bewusst wahrzunehmen.
In diesem Moment, in dem du und ich leben, explodiert vielleicht irgendwo da draußen im Universum ein Stern.
In diesem Moment, in dem du und ich leben, verlässt eine Biene ihre Wabe und eine andere zieht dort ein. Vielleicht bleibt auch ein Fahrstuhl stecken.
In diesem Moment, in dem du und ich leben, wird in Indien ein Hühnchen zu stark frittiert und jemand begrüßt seinen Seelenverwandten nach Jahren der Sehnsucht.
Aber vor allem – in diesem Moment in dem du und ich leben, in dem ich mit roten Wangen in die Unendlichkeit einer Fußgängerzone hinaustrete, auf der nicht meine Füße, aber meine Tränen ihre Spuren hinterlassen – in genau diesem Moment existiere ich. In dem Moment, in dem ich mir ein Schild bastele und draufschreibe „Kostenlose Umarmung“, wartend, dass jemand kommt. Lebe ich. Sterbe ich. Spüre ich die Sehnsucht nach Traumland. Und bin mir selbst ganz nah. Denn Traumland – das bin ich.
Und dieser Moment – das ist Wirklichkeit.
Das ist ein Beitrag zu den Bloggerthementagen 2013. Mehr dazu auf: http://quergedachtes.wordpress.com/
Quote: http://faden-rot.blogspot.de/2013/03/traumlander-und-parallelwelten-ein_3.html